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Wir sind Landsgemeinde: Das Volk will mitreden bei Atomfragen

Kühlturm Atomkraftwerk Leibstadt AG: Symbol der Nuklearenergie in der Schweiz • Foto: Keystone-SDA, Beutler

Staatskanzlei • Aus der Geschichte kann man lernen. Der Public Newsroom gl.ch blickt in loser Reihenfolge zurück auf bemerkenswerte Entscheide der Glarner Landsgemeinde. Heute: 1980 gab sich die Landsgemeinde das Recht zum Mitreden, wenn es um Atomanlagen auf Kantonsgebiet oder in der Nähe geht.

Von Roland Wermelinger, Public Newsroom gl.ch
 

1980: Ronald Reagan wird amerikanischer Präsident und Indira Ghandi in Indien Ministerpräsidentin. Sowjetische Truppen marschieren in Afghanistan ein und in Deutschland wird die Grüne Partei gegründet. «Another Brick in the Wall» von Pink Floyd ist das beliebteste Musikalbum der Schweiz.
Zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion tobt der kalte Krieg. Nicht nur die Angst vor einem Atomkrieg beschäftigt die Welt, es drängt auch die Frage nach einem Standort für die Entsorgung von radioaktiven Abfällen. Auch in der Schweiz und auch in Glarus.

Volk soll mitbestimmen

Die Sozialdemokratische Partei und das Gewerkschaftskartell des Kantons Glarus reichen zuhanden der Landsgemeinde 1980 einen Memorialsantrag ein und verlangten darin eine Änderung der Kantonsverfassung. Die Landsgemeinde solle künftig einbezogen werden, wenn es um Stellungnahmen des Kantons zuhanden des Bundes zu Atomthemen geht. Das Volk solle insbesondere mitbestimmen beim Bau von Kernkraftwerken, Aufbereitungsanlagen für Kernbrennstoffe oder Lagerstätten für radioaktive Rückstände auf dem Gebiet des Kantons Glarus und der angrenzenden Kantone. Kurz zuvor wurde bekannt, dass sich das Glarner Kantonsgebiet offenbar für die Endlagerung radioaktiver Abfälle eigne. In den Jahren 1978 bis 1979 stimmten bereits die Stimmbürger der Kantone Zürich, Schaffhausen und Neuenburg Initiativen zu, die ein Mitbestimmungsrecht des Volkes forderten. 

Angst vor Atomkraftgegner-Demo und der Wunsch nach einer Urnenabstimmung (!)

In seiner Stellungnahme bestätigte der Glarner Regierungsrat, dass die Bewilligung einer Atomanlage ein «Politikum ersten Ranges» sei und es deshalb Sinn mache, diese Frage breit abzustützen. Er führte aber zwei Bedenken ins Feld. Bei Vernehmlassungen des Bundes auch zu atompolitischen Fragen seien erstens Fristen einzuhalten, die ein Landsgemeindekanton wie Glarus nicht einhalten könne. Extra eine ausserordentliche Landsgemeinde einzuberufen, wenn es z. B. um ein Endlager im Bergell gehe, sei kaum verhältnismässsig. Zweitens befürchtete der Regierungsrat eine uferlose Diskussion im Landsgemeindering zu diesem heissen politischen Eisen. Gemeint war damit, dass die ehrwürdige Landsgemeinde als Plattform für eine Demo der Anti-AKW-Bewegung missbraucht werden könnte. Dies kam später auch in den Diskussionen im Landrat zum Ausdruck. Es dränge sich deshalb geradezu auf – befand der Regierungsrat schliesslich – nicht die Landsgemeinde, aber den Landrat einzubeziehen.

Der Landrat brachte dann noch eine weitere aussergewöhnliche Idee ins Spiel: Für den Fall «dass man finden sollte, es sei auch im Kanton Glarus das Volk in das Vernehmlassungsverfahren zu Atomanlagen einzubeziehen» solle dies nicht an der Landsgemeinde geschehen, sondern an der Urne. Dem Landrat war bewusst, dass er sich dabei in ein Minenfeld begab, denn geheime Sachabstimmungen sah das Glarner Recht schon damals nicht vor. Dass die Institution Landsgemeinde durch einen solchen Tabubruch gefährdet sein könnte, ist denn auch im Memorial nachzulesen.

Landsgemeinde entscheidet sich für die Urnenabstimmung

All die Argumente, die schon die Beratungen von Regierungsrat und Landrat geprägt hatten, wurden im Landsgemeindering nochmals laut >>Auszug Memorial [pdf, 2.1 MB]. Schliesslich entschied sich das Volk für ein eigenes Mitspracherecht ...an der Urne.

Und heute?

Das Bundesparlament strich 2003 das Vetorecht der Kantone bei Atomanlagen aus dem Kernenergiegesetz. Damit wurde der 1980 von der Glarner Landsgemeinde beschlossene Verfassungsartikel zu Makulatur. Das Glarner Dorf Matt, seit 1979 als möglicher Standort eines Atomendlagers im Gespräch, wurde später aus den Plänen der Atomenergiebehörde gestrichen. 

2011 entschied sich der Bundesrat für einen langfristigen Atomausstieg. Die Atomkraftwerke sollen bis zum Ende ihrer Betriebsdauer bestehen bleiben, danach jedoch nicht ersetzt werden. Das jüngste Atomkraftwerk in Leibstadt würde, bei der Annahme einer Betriebsdauer von 50 Jahren, 2034 abgeschaltet. Ende 2019 wurde das AKW Mühleberg heruntergefahren. Die Suche nach einem sicheren Aufbewahrungsort für radioaktive Abfälle dauert an. 

Und sonst: So tickte das Glarnerland im Jahr 1980

Publikumsandrang im Kulturlokal Engi, 1980 • Foto: RSR

Auf der Website des Radios und Fernsehens der französischen Schweiz, RSR findet sich ein einstündiger Film, den das Fernsehen der Romandie 1980 gedreht hat. In aufwändiger Recherche und beeindruckenden Bildern wird das Leben, Denken und Streben der Glarnerinnen und Glarner portratiert. Zu sehen und hören sind heute bekannte Persönlichkeiten in ihren ganz jungen Jahren (u. a. Dora Brunner, Martin Vogel, Kaspar Marti). Entstanden ist aus heutiger Sicht eine sehr eindrückliche Zeitreise mitten durch den Kanton Glarus von 1980. Link zum Film «Glaris»

Wir sind Landsgemeinde

Diese lose Serie über bemerkenswerte Entscheide der Glarner Landsgemeinde entsteht in Zusammenarbeit mit alt Ratssekretär und Fahrtsbrief-Verleser Josef Schwitter aus Näfels. Die Texte von Roland Wermelinger und André Maerz lehnen sich an das jeweilige Landsgemeinde-Memorial und an die Landsgemeindeprotokolle an. 

> Überblick über alle bisherigen Folgen

> Mehr zur Glarner Landsgemeinde   

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