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Auf Spurensuche in Glarus

Wiedersehen nach 75 Jahren: Ruedi Küng (li) der Neffe der Ida Jeck und Daniel Braconnier aus Belfort. Foto: Beate Pfeifer

Der Public Newsroom www.gl.ch zeigt regelmässig ein Portrait aus der «Glarner Woche». Heute eine bewegende Geschichte eines Jungen aus dem Elsass, der im Zweiten Weltkrieg Zuflucht in Glarus fand – und nun Spuren aus jener Zeit sucht. • Von Beate Pfeifer

Noch einmal nach Glarus reisen, an den Ort zurückkehren, an den man ihn als sechsjährigen Bub geschickt hat, um der Bombardierung seines Heimatdorfes Belfort in Frankreich zu entgehen. Das hatte sich Daniel Braconnier zu seinem 80. Geburtstag gewünscht. Und dieser Wunsch ist dem mittlerweile 81-Jährigen von seiner Familie erfüllt worden. Ende Juli hat Daniel Braconnier sich auf Spurensuche nach Glarus begeben – 75 Jahre sind seit damals vergangen.

Irgendwann gegen Ende 1944, der Zweite Weltkrieg war fast vorbei, machte im französischen Belfort das Gerücht die Runde, dass der Ort bombardiert werden sollte. Das Rote Kreuz schickte insgesamt 212 Kinder in verschiedene Glarner Familien, um ihr Leben zu retten. Unter ihnen der damals sechsjährige Daniel Braconnier und sein elfjähriger Bruder. Die Geschwister wurden jedoch getrennt. Während der ältere in einem Betrieb arbeiten musste, wurde Daniel von Fräulein Ida Jeck herzlich aufgenommen. Die damals 38-Jährige sei sehr mütterlich gewesen, erzählt Daniel Braconnier. Sie habe selbst keine Kinder bekommen können, vermutlich, weil sie an Kinderlähmung erkrankt war.

Der Junge ging im alten Schulhaus am Zaunplatz zur Schule, hatte Kontakt mit den Gleichaltrigen im Viertel an der Waisenhausstrasse, wo Ida Jeck lebte. Auch Schweizerdeutsch lernte er sehr schnell. So schnell, dass er sein Französisch vergessen hatte, als er sechs Monate später nach Frankreich zurückkehrte, witzelt seine Familie heute. Mittlerweile ist es jedoch umgekehrt: Das Schwizerdüütsch ist dem Franzosen im Laufe der Jahre wieder verloren gegangen. Dafür erinnert er sich aber noch gut an die herzlichen Menschen im Glarnerland, die es gut mit ihm meinten. Braconnier hat nur positive Erinnerungen an seine Zeit in Glarus, wie er erklärt.

Nun will Daniel Braconnier die Orte seiner Vergangenheit nochmals besuchen. Einmal reiste Braconnier nach Glarus, um Ida Jeck wiederzusehen, mit der er einen losen Briefkontakt gepflegt hatte. Das war 1971. Aber auch das ist mittlerweile fast 50 Jahre her.

Die Menschen, die er damals kannte, leben grösstenteils nicht mehr. Ida Jeck verstarb bereits 1995. Doch das Haus, in dem Braconnier damals lebte, steht noch. Noch – denn es ist mittlerweile ziemlich zerfallen und soll demnächst abgerissen werden. Er habe Glück gehabt, dass er es noch einmal sehen konnte, sagt der 81-Jährige. Und auch sonst sei der zweitägige Besuch sehr erfreulich verlaufen.

Daniel Braconnier ist in Begleitung seiner Enkelin Natalie Dato-Beutler und ihrem Mann Didier Beutler nach Glarus gereist. Ausserdem dabei seine Kinder Jean-Antoine und Pascale Dato-Braconnier sowie die Schwiegertochter Chantal Dato. Die Reise sei für sie alle ein Ferienausflug, sagt Didier Beutler, der als Einziger sehr gut Deutsch spricht. Die Gruppe hat ein paar alte Fotografien dabei, auf denen unter anderem Daniel Braconnier und der gleichaltrige Neffe des Fräulein Jeck abgebildet sind.

Die erste Station ist das Rathaus. Wie der Zufall es will, trifft die Gruppe dort tatsächlich auf Personen, die sich noch an Ida Jeck, ihren Neffen und und das Haus, in dem sie lebte, erinnern. Als sie das 1814 erbaute Haus besuchen, werden sie von verschiedenen Glarnern angesprochen, die wissen wollen, was sie denn suchen. Und wieder hilft der Zufall. Die Familie erfährt, dass der Neffe, mittlerweile 80-jährig, in der Genossenschaft Alterssiedlung Glarus lebt. Sie vereinbaren einen Termin und besuchen Ruedi Küng am nächsten Tag. Alte Erinnerungen werden ausgetauscht und die Zeit verfliegt. Die Verabschiedung fällt deutlich emotionaler aus als die Begrüssung.

Am Vormittag sucht die Familie noch das Sekretariat des Roten Kreuzes in Glarus auf. Daniel Braconnier möchte herausfinden, wann genau er nach Glarus kam und ob es noch andere Kinder gab, die damals in Glarus Unterschlupf gefunden haben. Und ein weiteres Mal trifft die Familie auf grosse Hilfsbereitschaft. Erika Rhyner, beim Roten Kreuz für den Bereich Bildung zuständig, setzt alle Hebel in Bewegung, um an Informationen zu kommen. Vermutlich sei die Organisation der Kinderhilfe damals über Bern gelaufen, vermutet sie. Doch nach wenigen Minuten überrascht sie die Besucher aus Frankreich mit einem Buch, in dem alle Protokolle der damaligen Sitzungen zusammengebunden sind. Und tatsächlich findet sich ein Eintrag über die Kinderhilfe der damaligen Zeit. Daniel Braconnier erfährt, dass 212 Kinder aus Belfort damals im Glarnerland untergebracht waren. Das hatte er nicht gewusst.

Vielleicht findet sich ja noch eine Familie, die damals ein anderes Kind aufgenommen hat, hofft er. Und vielleicht findet er auch weitere Informationen über die Zeit vor 75 Jahren in Glarus.

Der Besuch hat sich für Daniel Braconnier gelohnt: Er konnte einige Orte, die in seiner Vergangenheit eine wichtige Rolle gespielt haben, nochmals besuchen. Und auch wenn sich vieles verändert hat, die Herzlichkeit der Glarner habe ihn damals wie heute sehr froh gemacht.

Kontakt Redaktion:  glawo@somedia.ch – «Glarner Woche» 

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